Erhard Scherner ist Germanist und  Lyriker.  Als “ Berufsrevolutionär“ – so nennt er sich selber – arbeitete er im Kulturbereich der DDR. Er opferte sein Leben einem Traum und war ungewollt daran beteiligt, diesen Traum zu zerstören.

Er gräbt für uns in seinen Erinnerungen, diese sind subjektiv, bestimmt verklärend und beleuchten doch viele Momente im Machtapparat der DDR. Er gehört der „Flakhelfergeneration“ an: 1929 in Berlin geboren, aufgewachsen und indoktriniert im NS-Deutschland, aber zu jung, um große Schuld auf sich zu laden. Das neue System fördert nach dem Krieg das Arbeiterkind, gibt ihm die Möglichkeit eines Studiums (Germanistik bei Hans Mayer in Leipzig, eine Kommilitonin war Christa Wolf). Nach einem über zweijährigen Aufenthalt in China mit seiner Frau Helga Scherner, die Sinologin war, rettet ihm bei der Rückreise in die DDR ein Papagei sein Leben. Die alten Genossen  schenken ihm noch mehr Vertrauen, er darf im Zentralkomitee der DDR bei dem für Kultur zuständigen Alfred Kurella arbeiten. Bald aber verstehen die alten Genossen die Gedichte von Wolf Biermann falsch oder zu gut – ruft er sie nicht gar zum Rücktritt auf? – und Scherner muss zeigen, ob er ihres Vertrauens würdig ist. Dabei geht sein freundschaftliches Verhältnis zu Wolf Biermann in die Brüche. Die Arbeit Scherners kompromittiert auch seine Kunst. Keine Verheißung währt ewig, Scherner zahlte dafür ein mit Lebenszeit, so wie wir alle im Staat DDR.


Directors Note


Ein Zufallsfund: Eigentlich recherchierte ich zum Dichter Kuba (Kurt Barthel). Mir fiel das Buch von Erhard Scherner über ihn in die Hände, einem Freund des Dichters. 'Wer ist denn Erhard Scherner?' - , wenig war über ihn zu finden im Netz. Aber via Google dann eine Telefonnummer, nach dem ersten Telefonat war mir klar, dass hier ein Zeitzeuge noch Zeugnis geben kann. 'Der kennt ja fast alle', dachte ich und verabredete mich auf ein Interview mit Bild und Ton, zwei weitere schlossen sich an, und noch ein Gespräch nur mit Ton. Anfangs sollte es eigentlich kein Film werden, der Wert sind die Transkripte und das Bild eher ein Nebenbei, so die Absicht beim Beginn der Arbeit. Doch dann die vielen Dokumente von Erhard Scherner selbst und von seinem Sohn Hans Scherner zur Verfügung gestellt, tausende Negative, viele Schriftstücke, 8mm-Aufnahmen aus China und dem Familienleben. Auffällig häufig im Bild das traurige Kind, die Tochter, wie verloren. Ich gab ihr im Film die Stimme, für mich und meine Generation  zu sprechen. Denn das was und wie Erhard Scherner erinnert, ist nicht meine Erinnerung, das Glück der Kinder ist ein anderes, so liefert die Stimme des Kindes vielleicht ein Korrektiv, auch in Liebe und im Bewusstsein, dass später auf uns anders gesehen wird, als wir uns selbst erdenken.


Sven Boeck   

Materialien

 Biografie  Erhard Scherner

1929 in Berlin geboren
1947 Abitur
1947 – 1948 Neulehrer
1948 Eintritt in die SED
1948 bis 1953 Studium in Berlin und Leipzig, Germanistik bei Hans Mayer,  Staatsexamen, Abschlussarbeit zu Kuba
Ab 1949 Freundschaft mit dem Dichter Kuba (Kurt Bartel) bis zu dessen Tod 1967
1953 Heirat mit der Sinologin Helga Mühlpfordt
1953 – 1956 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Schriftstellerverband (Sektion Lyrik)
1956 – 1958 Chinaaufenthalt: Lektor und Redakteur im Verlag für Fremdsprachige Literatur, Peking
1959 – 1968 politischer Mitarbeiter im ZK der SED, bis 1961 unter dem für kulturelle Fragen zuständigen Alfred Kurellas
1961 - 1990 Mitglied des Schriftstellerverbandes der DDR
1968 – 1972 Aspirantur im Institut für Gesellschafts-wissenschaften beim ZK der SED
1972 – 1975 Stellvert. Chefredakteur der Zeitschrift Neue Deutsche Literatur
1975 – 1980  Leiter des Alfred-Kurella Archivs der AdK der DDR
1980 - 1990  Arbeit als freischaffender Schriftsteller, leitet Zirkel von jungen Schreibenden in Berlin  und bei den  Poetenseminaren der FDJ in Schwerin
1990-1993  Arbeit beim Fremdsprachenverlag, Peking , später Studienreisen u.a. nach Taiwan, Südkorea
ab 1994 Fortsetzung der politischen und schriftsstellerischen Tätigkeiten als Rentner
lebt seit 2016 in Postdam


Bibliographie

„Kuba
Brot und Wein“
Gedichte, Lieder, Nachdichtungen
Herausgegeben und eingeleitet von Erhard Scherner,
Reclam, Leipzig, 1. Auflage 1961, 2.Auflage 1975

„Kultur und Künste in der DDR“
Begegnungen mit einer neuen Wirklichkeit
In der Reihe „Aus erster Hand“
Staatssekretariat für westdeutsche Fragen, Berlin, 1970

„Ich hab den Morgen oftmals kommen sehen…“
Zur Poetik des Dichters Kuba
Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale), 1975

„Geschichten vom LaoWai“
Innenansichten aus China
Eisbär Verlag, Berlin, 1997
ISBN 3-930057-12-3

„Entwurf eines Spiegelbildes“
Gedichte
Edition D.B.- Erfurt, 2004
ISBN 3-936662-09-6

„Der chinesische Papagei“
Erzählung
verlag am park in der Edition Ost, Berlin, 2015
ISBN 978-3-945187-40-1

„Du Fu
Anblick eines Frühlings“
Gedichte
Nachdichtungen von Erhard Scherner
Interlinearübersetzungen, Kommentare und Nachwort von Helga Scherner
HeRasVerlag, Reiner Schulz, Göttingen 2016
ISBN 978-3-95914-018-8

„Ho chi Minh
Gefängnistagebuch“
Herausgegeben und aus dem Chinesischen übertragen von Erhard und Helga Scherner
HeRasVerlag, Reiner Schulz, Berlin 2020
ISBN 978-3-95914-199-4




Erhard Scherner tritt im Dezember 1961 in den Deutschen Schriftsstellerverband (DSV), den Berufsverband der Schriftsteller in der DDR ein. Etwa in der selben Zeit erfolgt der Ausschluss von Heiner Müller aus dem Verband, auf Grund der "Umsiedlerin-Affäre".

Mitgliedschaft und Stimmabgaben von Erhard Scherner waren immer auch "parteilich" determiniert.

Der Ausweis trägt die Unterschriften  von ihm, Anna Seghers und Otto Braun.

 








ALS DIE TOCHTER AM 28. JULI
MORGENS AUS DEM HAUS TRAT


                                                                         Für Renate

Nun gehst du fort. Verschließe, Mund, die Pein
und stammle Freude. Besser: schweig.
 Auch ich, du weißt, wünschte zu sein,
wohin du wanderst, wenn die Sonne steigt.

Nun gehst du fort. Noch klingt im Ohr
dein unerschrocknes Lied.
Bewahr dein Lied und lausch dem neuen Wort,
wenn über Weizenfeldern Mittagsonne glüht.

Nun gehst du fort. Mein Auge lacht. Und weint.
Wie töricht trübt es meinen Blick.
Ich weiß den Stern, der uns für immer eint –
doch kehre, eh die Sonne sinkt, zurück.

                                *
Nun gehst du fort. Sei glücklich, Tochter. Taug.
Ich will dich halten, aber sage: geh.
Und sei mir Mund und Ohr und Aug,
wann ich nicht sprech, nicht hör, nicht seh.

1979










Mir träumte, ein großer Frühling werde
uns frei und brüderlich machen: Erde,
Mensch und Baum.
Ein halb Jahrhundert ist verronnen.
Hab nichts verloren, nichts gewonnen.
 Nur einen Traum.

12. Januar 1979






Der verlorene Frühling

 

 

Als LaoWai in der Mitte des unruhigen Jahrhunderts nach China gelangt, scheint das Land in einen einzigen großen Frühling getaucht. Sonne strahlt, die von keinem Untergang weiß. Was für Jahrtausende unumstößlich schien, ist in Frage gestellt. Schmerz und Leid - verges­sen, vergangen wie die Nacht. Diebstahl, Bestechung, die Laster - verschwunden, denkt LaoWai. Der neue Tag zählt, nur der. Vor ihm neigt sich die staunenswerte Historie, um - abzutreten. Die Händler mit den zweifel­haften Kostbarkeiten schneiden wehmütig die über­langen Fingernägel. Selbst die Götter erblassen vor dem dynamischen Heros, der aus Steppen und Gebirgen kam.

Hundert Blumen blühen. Welken. Die Vögel der Hauptstadt, erschlagen im Drei-Tage-Krieg gegen den Sperling. Großer Sprung. Die Zeitungen der Großen Buchstaben, hoffnungsvoll an die Wände geklebt, auf Wäscheleinen geheftet quer durch die Kantine. Zerstreut wie die Vorwitzigsten der Schreiber. Frühling? Jedenfalls wird kein Winter mehr sein: Der Puddelofen auf dem Hofe frißt die Heizkörper. Wir produzieren Bücher und Stahl! Die endlosen Versammlungen, das tödliche Gewäsch.

 


Eine alte Frau

 

Die Zeit heilt alle Wunden, das sagt man so.

„Es ist Selbstmord gewesen", sagt die alte Frau. „Immer ist es Selbstmord gewesen. Nach der Kampfversammlung. Es gab keinen Prozeß. Und es wird auch keinen geben."

„Und wie ist es dir ergangen?" fragt LaoWai.

„Ich lebe", sagt die alte Frau. „Ich lebe zwischen den Mördern."

ZUSEHEND BEIM FISCHFANG

 

In Mianzhou, am Flusse, der Ostfurt nah:

Brassen und Königsmakrelen, heller als Silber.

Die Fischer rudern hinaus in den Strom und werfen die großen Netze,

sie schneiden den Fluss ab, an der Schleuse fangen sie hunderte Fische.

 

Die meisten holt der Fluss zurück,

rötliche Karpfen, als hätten sie Götterkraft, entspringen dem Netz.

Höhlendrachen harren still, drohend knurren Krokodile,

sausend peitscht ein Wirbelwind den Ufersand.

 

Die Köche wirbeln blitzende Messer,

Stücke vom Fisch fliegen auf goldene Platten, wie Schnee zu Hauf.

Selbst Schleie aus Xuzhou sind nicht so köstlich,

der vorzügliche Karpfen von Hanyin macht sich beschämt davon.

 

Die hiesigen Brassen, rundlich und schön, sind, wie man weiß, die besten.

Ist der Hunger gestillt, empfinden wir Freude, Trauer auch.

Sahst du nicht in der Früh die abgeschnittenen Flossen?

Den Wellen so nah und kehren doch nimmer zurück.


Du Fu (712-770)

Interlinearübersetzung Helga Scherner, Nachdichtung Erhard Scherner


DER PAPAGEI

 

Der Papagei hegt traurige Gedanken,

ist viel zu klug, die Trennung zu verwinden.

Das grüne Federkleid - schon ganz zerrupft.

Sein roter Schnabel weiß zu viel.

 

Nicht einen Tag tat sich der Käfig auf,

leer ist der Zweig, der ihm einst Schlafplatz war.

Bedauert und geplagt von jedermann –

was braucht er da ein prächtiges Gewand?


Du Fu (712-770)

Interlinearübersetzung Helga Scherner, Nachdichtung Erhard Scherner
 


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